Thomas Höffgen

Der Wilde Mann

Züge des Schamanismus in Volksdichtung und Verkleidungskult

 

In: Fisch, Michael und Seiderer, Ute (Hrsg.): Hülle und Haut. Techniken des Verkleidens und Umschließens. Berlin 2014, S. 280-300.

Einleitung

Der Wilde Mann ist eine Figur aus der Volksdichtung: Er lebt allein im Wald, ist am ganzen Leib behaart und mit Blattwerk oder Moos bekleidet; in den Händen trägt er einen Baumstamm, meistens eine Fichte. Der Wilde Mann wird als »Primitiver«, aber auch als »edler Wilder« wahrgenommen. Er ist ein Mischwesen aus Mensch und Tier, oft erscheint er riesenhaft, manchmal auch als Zwerg; sein Wesen ist ambivalent. In ihm »verschmilzt das Erscheinungsbild germanischer Walddämonen mit dem antiker Satyren«.1 Aber der Wilde Mann ist nicht nur Poesie, er ist auch physische Realität: Bis heute verkleiden sich bezeiten junge Burschen mit Tierfell und Hörnermasken und ziehen als wilde Leute lautstark durch die Straßen. Schon im Mittelalter waren Wilde Mann-Spiele sowohl beim Volk als auch bei Hofe beliebt. Und in der Antike waren Umzüge und Maskenkulte, bei denen Menschen sich in Tierhaut hüllen, mit ekstatischen Ritualen verbunden. Allen diesen Wilde Mann-Darstellungen ist gemein, dass sie die Grenze zwischen Zivilisation und Wildnis transzendieren: Sie bedeuten den Kontakt mit der Naturgewalt. Der Wilde Mann entführt in einen Raum jenseits der vertrauten Welt und Wirklichkeit – die Wildnis –, in dem die Gesetze der Kultur nichts wert sind. Hinter dem Hag, hinter den Stadtmauern beginnt sein Reich: der Ur-Wald, das Jenseits, das Chaos.

 

Tatsächlich weist sowohl die poetische als auch die physikalische Erscheinungsform des Wilden Mannes Ähnlichkeit mit jener des Schamanen auf – das ist ein »Zauberpriester« (tung. šaman: »der, der weiß«), der als »Vermittler zwischen dem Menschen und den Mächten hinter dem Schleier der Natur«2 fungiert. Die Maskerade des Schamanen besteht kulturübergreifend und bis in die Gegenwart aus Tierfell, Leder, Federn und Gehörn. Mittels einer archaischen Trancetechnik, d. h. im ekstatischen Bewusstseinszustand verwandelt sich der Schamane und wird zum Tier, weshalb er von den ersten Ethnologen als ein »Wilder« bezeichnet wurde.3 Heute geht man davon aus, dass der Schamane die Harmonie zwischen Kultur und Natur herstellt: »Dazu muß er eine Initiation durchlaufen, die ihn zu einem Doppelwesen, halb Mensch, halb Geist (Tiergeist, Krafttier), macht«.4 Als »Wesen von tiermenschlicher Doppelnatur«5 ist er dazu befähigt, »den Bruch im Verhältnis zwischen der Gruppe und ihrer Umwelt«6 zu heilen.

 

Ist der »Weise Mann« der Archetyp des »Wilden Mannes«? Fest steht, dass das ästhetische Motiv der Fellverkleidung, mythisch oder rituell, die Grenze zwischen Kultur und Natur transzendiert: Der »Tiermensch« ist ein Wesen, das an beiden Bereichen teilhat. Aber erst im funktionellen Kontext des Schamanismus lässt sich diese Aufhebung der Grenzgesetze in einen sinnvollen Bezugsrahmen, nämlich ein Symbolsystem magisch-animistischer Welterfahrung, setzen. Dass zumindest Züge des Schamanismus in der Figur des Wilden Mannes präsent sind, soll im Folgenden geltend gemacht werden. Dieser Aufsatz versteht sich daher sowohl als Beitrag zu der philologisch-volkskundlichen Fragestellung nach dem Schamanentum in den einfachen Formen der europäischen Literatur, als auch zu der Funktionalität jener archaischen Verkleidungstechnik, die zum Grundbestand nicht nur der abendländischen Geschichte und Kultur gehört.

 

 

1Peter Dinzelbacher: Sachwörterbuch der Mediävistik. Stuttgart 1992, S. 905.

2Joseph Campbell: Mythologie der Urvölker. Die Masken Gottes. Basel 1991, S. 327.

3Vgl. Kocku von Stuckrad: Schamanismus und Esoterik. Kultur- und wissenschaftsgeschichtliche Betrachtung. Leuven 2003, S. 5 und 35 – 66.

4Klaus E. Müller: Schamanismus. Heiler, Geister, Rituale. 4. Auflage. München 2010, S. 2.

5Ebd., S. 50.

6Ebd., S. 95.