Waldbaden mit Geist und Seele

Von der Biochemie zum Baumbewusstsein

In: Info3. Bewusst leben - Gesellschaft gestalten. September 2023, S. 54-58.

 

Warum zieht es die Menschen seit Jahrtausenden in die Wälder? Weil biochemische Duftstoffe, die von den Bäumen ausgestoßen werden, das körperliche Wohlbefinden steigern, wie man uns weismachen will? Unser Autor glaubt nicht daran, dass sich die beseelende Wirkung des Waldes rein materiell begründen lässt – und legt den Grundstein für eine ganzheitliche „Forest Philosophy“.

 

Neueste naturwissenschaftliche Studien im Bereich der Forest Medicine („Waldmedizin“) belegen, dass ein Aufenthalt im Wald äußerst positive Effekte auf den menschlichen Körper hat. Pflanzliche Botenstoffe, die von den Bäumen abgesondert werden, vor allem die sogenannten Terpene, wirken nachweislich gesundheitsfördernd auf den menschlichen Organismus, indem sie etwa den Blutdruck regulieren, den Cortisolspiegel senken oder das Immunsystem stärken. Diese Erkenntnisse haben natürlich auch dazu geführt, dass es gegenwärtig wieder mehr Menschen in die heimischen Wälder zieht, um bewusst die Baumluft einzuatmen und sich die heilsame Wirkung des Waldes zunutze zu machen – man spricht neuerdings von „Waldbaden“ oder auch von „Shinrin Yoku“. Der Trend kommt ursprünglich aus Japan, wo die gesundheitsfördernde Wirkung des Waldes zum ersten Mal gemessen wurde und das Waldbaden sogar ärztlich verschrieben wird. Laut dem renommierten japanischen Baumprofessor Qing Li ist der Aufenthalt im Wald eine „natürliche Aromatherapie“ und „Entspannung und Erholung, während wir gasförmige, organische Substanzen einatmen“ (Qing Li, Forest Medicine).

 

Von den Terpenen zur Transzendenz

 

Aber ist das wirklich „wahre Waldmedizin“? Eine ganz andere Vorstellung von „Forest Medicine“ vermitteln uns etwa die indigenen Ethnien Nordamerikas, für die Wälder und Bäume keine wissenschaftlichen Studienobjekte darstellen, sondern heilige Wesen und weise Lehrmeister: Die Native Americans verstehen unter medicine nämlich explizit – viel philosophischer – „die transzendente Kraft in allen Dingen“. Bei ihren naturreligiösen Medizinwanderungen erleben sie nicht weniger als das Mysterium des Seins: Ihre Waldbäder gehen einher mit dem Gefühl spiritueller Alleinheit und göttlicher Erleuchtung. Tatanga Mani etwa, der Häuptling der Stoney-Nakoda, ist sogar davon überzeugt, dass „Bäume reden. Ja, sie reden. Sie sprechen miteinander, und sie sprechen zu dir, wenn du zuhörst. Ich selbst habe viel von den Bäumen erfahren, manchmal über das Wetter, manchmal über die Tiere, manchmal über den großen Geist“ (Chief Walking Buffalo). Mit Terpenen hat das nichts zu tun, sondern mit Transzendenz.

 

Aber auch auf anderen Kontinenten, nicht zuletzt in Europa, wurde der Wald vor allem als ein Ort geistig-seelischer Erkenntnisse und göttlicher Eingebungen wahrgenommen – man denke an die heiligen Haine der Germanen, die grüne Kraft der Hildegard von Bingen oder die Waldverehrung der Romantiker. Noch Hermann Hesse war davon überzeugt, dass Bäume und Menschen miteinander kommunizieren können: „Wer mit ihnen zu sprechen, wer ihnen zuzuhören weiß, der erfährt die Wahrheit“ (Bäume). So drängt sich der Verdacht auf, dass die Wälder nicht nur materiell auf uns einwirken, sondern auch immateriell, nicht nur physisch, sondern auch metaphysisch. Oder mit den Worten des US-amerikanischen Transzendentalisten Ralph Waldo Emerson: „In den Wäldern kehren wir zur Vernunft und zum Glauben zurück.“

 

Philosophisches Waldbaden

 

Als moderne Naturwissenschaft ist die Forest Medicine dem Mechanizismus verpflichtet, wonach die Natur ausschließlich materiell und quantitativ zu begreifen sei: Als bewiesen gilt, was messbar ist, weshalb zum Beispiel Geist und Seele allenfalls als Chiffre für Gehirnströme zu werten seien. Aus geisteswissenschaftlicher Perspektive ist eine solche Welterklärung natürlich geradezu schmerzhaft oberflächlich: Schon die altgriechischen Philosophen Sokrates, Platon und Aristoteles – jene wirkungsmächtigsten Gelehrten der europäischen Geistesgeschichte – gingen davon aus, dass die Welt nicht nur ein Haufen messbare Materie ist, sondern eine allbeseelte Entität: „In jedem Geschöpf der Natur lebt das Wunderbare“, sagte Aristoteles. Die Vorstellung von einer anima mundi („Weltseele“) ist eine der zentralen Theorien der abendländischen Ideengeschichte, keine Esoterik, sondern klassische Philosophie, und wird in geisteswissenschaftlichen Kreisen gerade gegenwärtig wieder als modernes metaphysisches Modell neu diskutiert (Stichwort „Panpsychismus“).

 

Nirgends konnten die antiken Weisen dieser Weltseele nun näherkommen als im Wald: Kaum zu glauben, aber wahr, die antiken Philosophen gingen schon vor zweieinhalbtausend Jahren leidenschaftlich gerne waldbaden – Platons Akademie war bekanntlich selbst ein Wäldchen vor den Toren von Athen. Sie taten dies jedoch nicht, um das körperliche Wohlbefinden zu steigern, sondern aus Gründen spirituellen Wachstums und um den geistigen Naturgesetzen und göttlichen Geheimnissen der Welt gewahr zu werden. Schon die vorsokratischen Pythagoreer meditierten im Schatten heiliger Bäume. Aber auch von Sokrates ist eine solche Episode überliefert, in der er an den bewaldeten Ufern des Flusses Ilissos waldbadet.

Stellt sich bloß die Frage, ob Sokrates dasselbe eudaimonische Gefühl empfunden hätte, wenn er mit einer EEG-Haube zum Messen der Gehirnströme verkabelt gewesen wäre. Kaum verwunderlich, dass es bis heute keine Anleitung zu einem Waldbad gibt, das dem Waldbadenden eine vergleichbare philosophische Gotteserfahrung ermöglicht – Spiritualität lässt sich nun einmal nicht messen.

 

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Das Buch zum Thema:

Waldphilosophie

Warum der Wald nicht nur gesund, sondern auch weise macht

 

Der Wald als Ort geistiger Erkenntnisse, seelischer Erlebnisse und göttlicher Eingebungen

 

„Im Walde geht das Herz dem Menschen auf“, heißt es. Aber ist damit wirklich gemeint, dass ein Spaziergang durch den Wald den Blutdruck reguliert? Wahres Waldbaden ist kein medizinischer Trend, sondern eine mystische Tradition: Schon die Germanen verehrten ihre Götter in heiligen Hainen. Aber auch Buddha wurde unter einem Baum erleuchtet, Platon meditierte in einem Musenhain, Hildegard von Bingen nahm die „grüne Kraft“ der Bäume wahr und Goethe offenbarte sich im Wald die „Gott-Natur“. Dr. phil. Thomas Höffgen erinnert daran, dass ein Aufenthalt im Grünen nicht nur das körperliche Wohlbefinden steigert, sondern auch unseren Geist bewegt und unsere Seele berührt. Mit diesem Buch regt er dazu an, den Bäumen selbst mit einer gesunden Portion Spiritualität zu begegnen – eine Einladung zu einem Waldbad der philosophischen Art.