Thomas Höffgen

Der Werwolf als Schamane

In: Wölfe in Mythos und Kulturgeschichte. Von Wölfen, Menschen und Wolfsmenschen. Herausgegeben von Wolfgang Bauer und Clemens Zerlin. Mit Beiträgen von Thomas Höffgen und Ulrich Holbein. Basel/Zürich/Roßdorf 2023, S. 328-339; hier: S. 328-331.

 

 

Dichtung und Wahrheit

 

Auf der ganzen Welt gibt es Überlieferungen, Mythen, Märchen und Sagen, aber auch historische Abhandlungen und naturkundliche Traktate, die davon berichten, dass sich manche Menschen zuweilen in Wölfe verwandeln und also als Werwölfe umgehen (ahd. wer: „Mensch“), freilich vielfach verbunden mit der Vorstellung, dass eine solche Therianthropie („Tierverwandlung“) durchaus im Bereich des real Möglichen liege. Einige dieser Geschichten sind uralt, etwa das Gilgamesch-Epos (24. Jhd. v. u. Z.), in dem ein sumerischer Schäfer „in einen Wolf verwandelt“ wird.1 Andere zählen zum klassischen Literaturkanon, zum Beispiel Ovids Metamorphosen (frühes 1. Jhd.), in denen der griechische König Lykaon zum Wolf wird: „Zotteln werden die Kleider und Schenkel die Arme: ein Wolf ist Jetzt er geworden“.2 Viele sind fast völlig unbekannt, etwa die zahlreichen Augenzeugenberichte, die der frühneuzeitliche Gelehrte Johannes Praetorius in seinem Buch Blockes-Berges Verrichtung (1668) aufführt, zum Beispiel „daß auch der Herzog von Preußen solcher Zauberei einen gewissen Glauben geschenkt und um die Wahrheit zu erfahren, einen solchen Gesellen in das Gefängnis geworfen, sich in einen Wolf zu verwandeln, welches er auch getan“.3 Manche wiederum kennt in Deutschland fast jedes Kind, etwa aus den Deutschen Sagen (1816/1818) der Gebrüder Grimm: „Da wandelte plötzlich der Unbekannte die Gestalt und sprang ihm als Werwolf entgegen“.4

 

Was hat es mit solcherlei Geschichten auf sich? Soll man sie fürwahr als Tatsachenberichte lesen? Oder handelt es sich um poetische Fiktionen, gar Ausgeburten primitiver oder kranker Phantasie? Schon der griechische Gelehrte Plinius der Ältere bezeichnet in seiner Naturgeschichte (1. Jhd.) die Sage, dass ein arkadischer Auserwählter „in eine Einöde“ gehe, um „in einen Wolf verwandelt“ zu werden und „in Gesellschaft der übrigen Wölfe 9 Jahre lang“ zu leben, als „Unwahrheit“ und „Fabelhaftes“.5 Demgegenüber steht jedoch die Historia (1555) des schwedischen Gelehrten Olaus Magnus, in der es heißt, „daß die Art von Wölfen, die in Wirklichkeit in Wölfe verwandelte Menschen sind – eine Art, von der Plinius mit Zuversicht beteuert, sie seien als erdichtete Fabelwesen zu betrachten – daß solche, sage ich, noch heute in großer Zahl vorkommen, zumal in den nach Norden zu liegenden Ländern“.6 Zwar herrscht seit der Aufklärung die Deutung vor, dass es sich bei der sogenannten Lykanthropie – also der vermeintlichen Verwandlung eines Menschen in einen Wolf – um ein psychopathologisches Phänomen handelt, eine Geisteskrankheit (klinische Lykanthropie). Doch vermag dieser Ansatz nicht die Frage zu beantworten, wieso in einigen Überlieferungen gleich ein ganzes Rudel gemeinschaftlich umherzieht, mitunter ganze Völkerschaften alljährlich zur selben Zeit als Menschenwölfe in Erscheinung treten.

 

In den Geistes- und Kulturwissenschaften hat sich mittlerweile die Erklärung durchgesetzt, dass es sich beim Werwolfstum weder um ein poetisches noch ein pathologisches Phänomen handelt, sondern um ein religiöses bzw. rituelles, das in Verbindung steht mit wildem Denken und magischem Handeln, mit animistischen und totemistischen Vorstellungen.7 Zum Beispiel vermutet man, dass die berühmte Überlieferung in Herodots Historien (5. Jhd. v. u. Z.) – „die Skythen und die im Skythenland lebenden Hellenen behaupten, jährlich einmal verwandle sich einer der Neuren (ein skythischer Stamm) für wenige Tage in einen Wolf und trete dann wieder den menschlichen Zustand zurück“8 – „auf kultische Feste hinweise[n], bei denen sich die Neurer Felle und Masken überzogen“.9 Dieser Erklärung soll sich im Folgenden grundsätzlich angeschlossen werden, jedoch mit der nicht unbedeutenden Ergänzung bzw. Spezifizierung, dass es sich bei diesen religiösen Traditionen und Verkleidungskulten um konkret schamanische zu handeln scheint, ja dass sich der Werwolf selbst durchaus als Schamane deuten lässt.

 

Was ist Schamanismus?

 

Allgemein versteht man heute unter einem Schamanen „einen Menschen mit großen magischen Kräften, der sich mithilfe von Tanz, Musik und Drogen in Rauschzustände versetzt, um Seelenreisen zu unternehmen und Verbindung mit Verstorbenen und Geistern aufzunehmen“.10 Als Begründer der modernen Schamanismus-Forschung gilt der rumänische Religionshistoriker Mircea Eliade, der den Schamanismus als eine „archaische Ekstasetechnik“ definiert, die der Schamane gezielt einsetze, um außerkörperliche Erfahrungen einzuleiten und Geistreisen zu unternehmen (altgr. ἔκστασις: „aus-sich-heraustreten“)11; von der jüngeren Forschung wurde diese Deutung im Wesentlichen übernommen.12

 

Auffälligerweise hat man den Schamanen – wie den Werwolf – im ausgehenden 19. und anfangenden 20. Jahrhundert noch als einen Psychopathen bezeichnet, als Schizophrenen, Nervenkranken, Hysteriker oder Epileptiker; so wurde Schamanismus mit „arktischer Hysterie“ assoziiert, einer vermeintlichen Geisteskrankheit, die mit Apathie und Halluzinationen einhergehe.13 Neuere Forschungen legen jedoch nahe, dass der Schamane kein Geisteskranker ist, sondern vielmehr der Geisteswissenschaftler seiner Kultur, kein Primitiver, sondern ein Philosoph, wie denn das sibirische Wort Schamán auch wörtlich „weiser Mensch“ bedeutet (tung. Ša: „wissen“ und man: „Mensch“).14

 

Die Wurzeln des Schamanismus reichen in die Urgeschichte der Menschheit. Besonders das Jungpaläolithikum gilt als Hochphase des Schamanentums, wovon die ältesten Kunstwerke der Menschheit zeugen, vor allem Höhlenmalereien, die Mischwesen aus Mensch und Tier abbilden, zum Beispiel Vogelmenschen (Lascaux), Hirschmenschen (Trois-Frères), Bärenmenschen (Mas d’Azil), Pferdemenschen (Espélugues) und Bisonmenschen (La Gabillou), bei denen es sich anerkanntermaßen um „in Tierfelle gekleidete Schamanen“15 handelt. Noch älter sind aus Mammut-Elfenbein gefertigte Kleinkunstwerke wie der „Löwenmensch vom Hohlenstein-Stadel“ (ca. 35.000 Jahre alt), eine rund 30 Zentimeter große Figur, die einen aufrecht stehenden Löwen mit menschlichen Extremitäten darstellt, offenbar „ein Schamane in Trance“.16 In Anbetracht all dieser als Schamanen interpretierten Tier-Mensch-Figuren könnte man wiederum fast definieren: Schamanismus = Tierverwandlung.

 

Wenn nun aber allgemein angenommen wird, dass es sich bei allen diesen Wertieren – Werlöwen, Werhirschen, Wervögeln, Werpferden, Werbären, Werbisons – um Schamanen handelt, wieso dann nicht auch beim Werwolf? Zwar hat man zwar bis dato keine paläolithische Darstellung eines Menschenwolfs gefunden. Doch legen gleichwohl die genannten Kunstwerke die Vermutung nahe, dass auch die Wolfsverwandlung vor schamanischem Hintergrund zu deuten ist.

 

Totemismus, Schutzgeister und Krafttiere

 

Tatsächlich ist es keine These, dass sich Schamanen zuweilen auch in Werwölfe verwandeln, sondern eine Feststellung. Zumindest zeugen davon zahlreiche Berichte, zum Beispiel aus Sápmi („Lappland“), wo der Schamane noch bis in die Neuzeit aktiv war und Noaidi genannt wurde: „In alten Zeiten kam es auch vor, daß Menschen sich in Wölfe verwandelten. Es waren die Zaubermänner, die so etwas zuwege brachten“.17 Besonders bei den nordöstlichen Skoltsamen – „ein seltsames Volk“ – „gab es viele Noita. Sie gingen nicht zur Schule, und in früheren Zeiten zogen sie als Wölfe und Bären herum“.18

 

Das Schlüsselkonzept zur Tierverwandlung liefert der Totemismus, das heißt die schamanische Vorstellung „von der Verwandtschaft zwischen Tier und Mensch oder dem Tier als Kraftträger“.19 Ein Totem ist ein spirituelles Geistwesen in Gestalt eines Tieres, das jeden Menschen ein Leben lang begleitet und beschützt und sich in Träumen und Visionen oder aber im Moment des Todes offenbart. Im Gegensatz zu den meisten anderen Menschen ist der Schamane dazu in der Lage, mit seinem Totem gezielt in Interaktion zu treten, es bewusst herbeizurufen und sogar dessen Gestalt anzunehmen: „Das Verhältnis zwischen Schamane und Schutzgeist war in der Tat so eng, daß es gelegentlich geradezu Doppelgängercharakter besaß. […] Das verwandtschaftliche Verhältnis zu ihren Hilfsgeistern setzte sie instand, sich wie diese in Tiere zu verwandeln – freilich im Jenseits während ihrer dortigen Aufenthalte und entsprechend den Aufgaben, die sich ihnen stellten“.20 Wenn sich der Schamane also in Tierhaut hüllt, mit Federn schmückt oder eine Hörnermaske aufsetzt, tut er dies gleichsam, um körperlich zu kennzeichnen, dass er geistig eins geworden ist mit seinem Krafttier: Die äußere Verkleidung spiegelt die innere Verwandlung beziehungsweise die Verschmelzung des Schamanen mit seinem Tiertotem. Vor diesem Hintergrund klärt sich zugleich ein in vielen Sagen vorkommendes Motiv: „Wird ein Werwolf verwundet oder getötet, so findet man einen wunden oder toten Menschen“.21

 

Einige der berühmtesten Werwolfgeschichten stammen aus dem hohen Norden22, auch die Germanen besaßen ja eine schamanische Kulturtradition23, man denke etwa an die Völsunga saga (13. Jhd.), in der Sigurd und Sinfjötli als Werwölfe im Wald leben: „Sie heulten wie Wölfe und verstanden beide ihr Geheul“.24 Aber auch in der Edda (12. Jhd.), jener wichtigsten Quelle zur nordisch-germanischen Mythologie, werden in einem Atemzug mit den Berserkern („Bärenhäuter“) die Ulfheðnar („Wolfshäuter“) genannt: Dass es sich bei diesen mythischen Mischwesen aus Mensch und Tier um tierverwandelte Schamanen handelt, legen schwedische Bronzeplatten aus dem 6. Jahrhundert nahe, welche kultisch tanzende Menschen in Bären- bzw. Wolfsfellen abbilden (Historiska museet SHM 4325). Auffällig genug, dass sowohl in Sápmi als auch in Sibirien „Wolf und Bär“ häufig zusammen erwähnt werden, und zwar als „Schamanengeister“. In Sibirien gilt es als allgemein bekannt, „daß einige Schamanen einen Bären und einen Wolf haben und diese bei der Seance zeigen“.25 Offenbar handelt es sich bei diesen Tieren um zentrale Totems der zirkumpolaren, aber auch der germanischen Schamanen.26

 

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Weiterlesen im Buch: Synergia-Verlag

 


 

1 Gilgamesch-Epos, VI 61.

 

2 Ovid: Metamorphosen, Erstes Buch, S. 236f.

 

3 Vgl. Johannes Praetorius: Blockes-Berges Verrichtung, S. 173f.

 

4 Brüder Grimm: Deutsche Sagen. Erster Band, Nr. 215.

 

5 Plinius: Naturgeschichte, 8, 34, S. 107.

 

6 Olaus Magnus: Historia de gentibus septentrionalibus, Liber XVIII, Cap. XLV und XLVI, S. 642.

 

7 Vgl. z. B. Leander Petzoldt: Kleines Lexikon der Dämonen und Elementargeister, S. 182: „Die Glaubensvorstellung geht ursprünglich auf die Bekleidung mit Tierfellen zu kultischen Zwecken zurück (vgl. Berserker). Mit dem Fell und dem Aussehen des Tieres machte man sich sein Wesen bzw. seine Stärke zu eigen und glaubte, unter dem Einfluß hypnotischer und rauschhafter Zustände, tatsächlich das Tier zu sein. Das Tierfell reduzierte sich schließlich auf den Wolfsriemen, der nur umgelegt zu werden brauchte, um die Verwandlung zu bewirken“.

 

8 Herodot: Historien, IV 105.

 

9 Hermann Parzinger: Die Skythen, S. 73.

 

10 Duden, S. 319.

 

11 Vgl. Mircea Eliade: Schamanismus und archaische Ekstasetechnik, S. 14: „Eine allererste Definition dieses komplexen Phänomens, und vielleicht die wenigst gewagte, wäre: Schamanismus = Technik der Ekstase“.

 

12 Vgl. z. B. Klaus E. Müller: Schamanismus, S. 80: „Die wichtigste, schlechthin unabdingliche Voraussetzung für eine erfolgreiche Séance aber war, daß der Schamane in Trance fiel, genauer: in Ekstase geriet, das heißt ganz Seele wurde und sich so vom Leib befreien und ins Jenseits begeben konnte. Dazu hatten Schamanen in aller Welt eine Fülle von Techniken entwickelt“.

 

13 Vgl. z. B. Åke Joel Ohlmarks: Studien zum Problem des Schamanismus, S. 36ff. „Sie wären zugrunde gegangen, hätten sie nicht zu der hysteroiden Reaktion ihre Zuflucht genommen; sie war eine Art von ultimatum refugium, das über die unerträglichen Verhältnisse hinweghalf. […] In dieser Neuschöpfung, dem Schamanismus, konnte sich die hysteroide, nervöse Labilität und Sensibilität natürlich entfalten“.

 

14 Vgl. Thomas Höffgen: Der Weg des Schamanen aus philosophischer Perspektive.

 

15 Emil Hoffmann: Lexikon der Steinzeit, S. 333.

 

16 Andrea Zeeb-Lanz und Andy Reymann: Löwenmenschen und Schamanen, S. 41: „Hervorstechendste Merkmale für die Interpretation der Figur als Schamane in tiefer Trance sind zum einen die tierischen Attribute wie Löwenkopf und -pranken, zum anderen die Darstellung des Schwebens, hervorgerufen dadurch, dass die Fußsohlen nicht den Boden berühren. Sowohl die Verwandlung in ein Tier als auch das Gefühl des Schwebens oder Fliegens sind anerkannte Tranceerfahrungen, und sprechen eine recht deutliche Sprache in Richtung der Interpretation des Löwenmenschen als Abbild eines Schamanen“.

 

17 Die steinerne Herde. Volkssagen aus Lappland, S. 144.

 

18 Sápmi. Mythen und Sagen aus Lappland, S. 123.

 

19 Lexikon der Religionen, S. 663.

 

20 Klaus E. Müller: Schamanismus, S. 40 bzw. 60.

 

21 Wolfgang Golther: Handbuch der germanischen Mythologie, S. 137.

 

22 Offenbar leiteten auch die eisenzeitlichen Ethnien Nord- und Mitteleuropas – die Germanen – den Ursprung ihrer individuellen und kulturellen Existenz totemistisch von Tieren her, was Stammesnamen wie Cherusker („Hirsche“) oder Eburonen („Eber“), aber auch Eigennamen wie Eberhard („Eber“), Falk („Falke“), Bernhard oder Björn („Bär“) – und natürlich Wolfgang, Wolfhetan oder Úlfheðin („Wolf“) – belegen.

 

 

23 Vgl. Thomas Höffgen: Schamanismus bei den Germanen.

 

24 Die Völsungensaga, Kap. 8.

 

25 Schamanengeschichten aus Sibirien, S. 161.

 

26 Erinnert sei in dem Zusammenhang an den germanischen Göttervater Odin/Wotan, jenen nordischen Schamanengott, der auf seinen Jenseitsreisen von zwei Wölfen, Geri und Freki, begleitet wird: In Sibirien erzählen die Schamanen gleichsam, „daß sie zwei Hunde haben, die ihre unsichtbaren Diener sind“ (ebd.).