Thomas Höffgen

Frau Holle - Begegnungen mit einer Göttin

 In: Info3. Mai 2022, S. 40-43.

 

Jedes Kind weiß, dass Frau Holle eine alte Göttin ist, die unterirdisch in einem Brunnen und zugleich über den Wolken auf einer grünen Wiese lebt - aber nicht jeder Erwachsene kann sich daran noch erinnern.

 

Feldforschung am Frau Holle-Teich (Hoher Meißner)

 

Weltbekannt ist das Märchen von Frau Holle. Weniger bekannt sind viele Sagen, die von ihr handeln. Zum Beispiel die, dass ein kleiner Bergsee in Nordhessen ihr Zuhause sei, der Holle-Teich auf dem Hohen Meißner: „Bald zeigt sie sich als eine schöne weiße Frau in oder auf der Mitte des Teichs, bald ist sie unsichtbar und man hört blos aus der Tiefe ein Glockengeläut und finsteres Rauschen“, heißt es in den Deutschen Sagen der Gebrüder Grimm (DS 4). Jacob und Wilhelm Grimm besuchten den Frau Holle-Teich im frühen 19. Jahrhundert, erkundeten die Gegend und sammelten die Erzählungen der Einheimischen. Schnell waren sich die Germanisten einig: „Berg und Moore in der ganzen Umgegend sind voll von Geistern“ (DS 6).

 

Rund 200 Jahre später stattete auch ich dem Holle-Teich einen Besuch ab, um Feldforschung zu betreiben und um zu überprüfen, ob die Gegend tatsächlich voll von Geistern ist, ja im besten Fall um einen Blick auf jene holde Göttin zu erhaschen. Ich setzte mich ans Ufer unter einen herrlichen Holunder und betrachtete den See im Sonnenuntergang. Heute ist der Teich fast vollständig von Rohrkolben umgeben, das Wasser ist sumpfig und tiefschwarz. Ein großer Teil der Oberfläche ist von Seerosen bedeckt. Libellen aller Couleur tanzen nymphengleich über das Gewässer. Eine Holzskulptur, die am südlichen Waldrand des Sees steht und Frau Holle darstellt, erinnert an die altheidnischen Pfahlgötter, die die Germanen in ihren Mooren aufzustellen pflegten. Im Volksmund heißt es, dass dieser See unendlich tief sei und ein Eingang in die Anderswelt. Tatsächlich strömt am Grund des Teichs der 9°C kalte Godesborn („Hollequelle“).

 

Als die Nacht hereinbrach, war alles seelenruhig, sternenklar der Himmel. Nur aus dem dunklen Wald ertönte immerzu derselbe Ruf: „Kywitt! Kywitt!“ – „Komm mit! Komm mit!“. Ich wusste wohl, dass es sich – rein biologisch betrachtet – um den Ruf des weiblichen Waldkauzes handelt. Aber in meiner Vorstellung verband sich dieser Laut mit allerlei Naturmagischem: Volkstümlich gilt die Eule ja als Todesbote, aber auch als Tier der Weisheit. Nach altem Glauben offenbaren sich in diesem Nachtvogel Naturgeister und Götter: „Waldgeister und andere Dämonen stecken in ihr“ (Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens). Und tatsächlich steht die Eule in besonderer Beziehung zu Frau Holle, die in mittelalterlichen Quellen auch striga holda genannt wird, das heißt wörtlich „Eulen-Holda“ oder auch „Hexen-Holda“ (vgl. Burchard von Worms um 1000). Ja, ich muss gestehen, in dieser wundersamen Nacht, an diesem locus amoenus, fühlte ich mich durchaus in eine Zeit versetzt, die einmal war, und als Opfergabe an die Gott-Natur versenkte ich ein kleines Silberamulett im See.

 

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Thomas Höffgen, Philologe und Volkskundler, untersucht die alten Texte neu und gelangt zu der erstaunlichen Erkenntnis, dass vielerlei Folklore fürwahr aus jener Zeit stammt, die „einmal war“.