Thomas Höffgen

Die Musen und die Dichtersänger

In: Griechische Mythen der Kunst. Duisburg 2013, S. 101-108.

Boiotien, die wilde Heidelandschaft Mittelgriechenlands, galt den antiken Polisbürgern lange noch als eine rückständige Region. Es war, als sei die Zeit dort stehen geblieben und als lebten die Menschen dort noch immer in dem archaischen Weltzustand der verdunkelten Jahrhunderte. Boiotien, der Name rührt her von den Rinderweiden, die die ausgedehnten Täler des Landes prägten und die das Leben der Nomaden dort seit Jeher bestimmten. Doch galt das weite Land der Wanderhirten auch als Sitz der Götter und war reich besät mit geweihten Stätten und edlen Heiligtümern: Mit den Poseidon-Stadien in Onchestos am südlichen Ufer des Kopaischen Sees; mit der Athena Itonia-Statue bei Koroneia an den Nordhängen des Helikongebirges; oder mit dem Apollon-Tempel in Delion, am südlichen Golf von Euboia. Gleichwohl am höchsten noch verehrt, wurde das naturgewaltige Zentral-Gebirge der Region: Der heilige Berg Helikon, der Wohnort der berühmten Oreade Echo. Mit seinen zwei Tausend Meter hohen Gipfeln reichte der Berg hinauf bis in die himmlischen Sphären des Göttervaters Zeus.

 

Am Fuße eben dieses Berges ließen die Viehalter aus Boiotien ihre Tiere am liebsten weiden. Dort schien das Pflanzenwerk besonders saftig, denn die lebendig sprudelnden Quellen des heiligen Helikon befruchteten die Täler zu den erquickendsten Biotopen. Man sagte gar, die Borne hätte Pegasos höchstselbst mit seinen Hufen in den Grund und Boden eingetreten, jener Pferdegott mit Flügeln, den der Volksmund auch Musenross zu nennen pflegte. Denn der Helikon war auch der Sitz der Musen: Bei der Quelle Hippokrene, unweit des Ostgipfels, war ihnen ein Altar errichtet, und bei Sonnenschein badeten sie in dem Bach Permessos oder dem heiligen Olmeios. Woraufhin sie feierlich und fröhlich zu der Bergeskuppe zogen und dabei die schönsten Reigen tanzten. Ihr betörender Gesang erklang durch alle Felsenstrecken und hallte tausendstimmig in die Täler. Bei Nacht aber zogen die Musen durch die dichten Nebelbänke und rühmten mit ihren Liedern alle Götter Griechenlandes. Die altangestammten Hirten-Völker kannten dies Naturschauspiel sehr gut, denn sie verbrachten oft tagein tagaus unter freiem Sternenhimmel. Den Musen selbst verliehen sie den Namen Helikoniaden – Göttinnen vom Helikon.

 

Einer dieser Hirten aus Boiotien war Hesiod. Wie alle jungen Burschen seines Berufsstandes war er reichlich ungebildet und ziemlich faul dazu. Meistenteils überließ der Schäfer wohl den Hunden seine Arbeit, während er selbst ein Nickerchen im Schatten suchte. Sein Idol war schließlich Pan, der Hirtengott in Bocksgestalt, den man nicht zur Mittagsstunde stören durfte. Doch waren Hesiod auch die Gesetze der Natur  wohlvertraut: Der Wandel der Gestirne, die Flora und die Fauna, die Elementarwesen und die Dämonen – für die Hirten war das All Alltäglichkeit.

 

Einmal, als Hesiod den schönen Tag genoss, am kühlen Ort unter Eiche und Felsen, da war es ihm, als vernehme er, wie fieberhaft, die sonderbarsten Stimmen aus der Höhe, fern und doch ganz nah erschienen diese Flüstertöne, die sich unvermittelt mächtig amüsiert erhoben:

 

 

 

Hirtenpack ihr,

 

Draußenlieger und Schandkerle,

 

nichts als Bäuche...

 

 

 

Hesiod erschrak; er hob sich von dem Blätterbett und rieb sich durch die Augen. Hatte er geträumt? Doch da erklang es wieder, anmutig und kraftvoll, geheimnisvoll zugleich, und wie nur die Götter es vermögen, tönte es im Chor:

 

 

 

...vielen Trug verstehen wir zu sagen,

 

als wäre es Wahrheit,

 

doch können wir,

 

wenn wir es wollen,

 

auch Wahrheit verkünden.

 

 

 

Jetzt nahm die Vision Gestalt an, derweil Helios am Himmel den Zenit erreichte. An Blütensäulen stiegen sie im Tanz zu Hesiod hernieder – die Musinnen. In tiefe Verzückung fiel der Jüngling alsobald im Angesicht der holden Frauenbilder, die kaum bekleidet dessen Haupt umschwebten. Wahrhaftig entrückt war der Bursche, als die lieblichsten Gesänge widerhallten, die den Göttinnen aus ihren Kehlen flossen und die sie mit den süßesten Klängen ihrer Lyren unterlegten. In der Tat dem Thanatos ganz nah war Hesiod, als die Musengöttinnen ihm Dinge offenbarten, die kein Mensch vor ihm je hat schauen dürfen: Dinge vom Anfang und vom Ende der Welt, von der Geburt der Götter und vom Urgrund allen Seins. Erinnerungen stiegen auf in ihm, von Ereignissen, die er nicht hat miterleben können, weil er da noch nicht geboren war; Erinnerungen an die Zukunft, die er nicht wird miterleben können, weil er dann schon längst gestorben sein wird. Das ganze Wissen dieser Welt war im Geiste Hesiods versammelt, als die Musen unvermittelt innehielten und einen starken Zweig üppig grünenden Lorbeers brachen, um diesen dem berauschten Mann zu schenken. Von dem Moment an, als er den Stab in seinen Händen hielt, war Hesiod ein neuer Mensch, wie neugeboren und voller Stimmgewalt und Weisheit, eingeweiht in die musischen Mysterien. Er war kein Hirte mehr von diesem Augenblick, er war nun Dichtersänger.

 

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