Thomas Höffgen
Vidar Quest -Visionssuche für Jugendliche
Die Wiederentdeckung einer Tradition. In: Info3. Juli 2020, S. 59-61.
Zwölf Jugendliche haben sich am Rande eines Waldstückes versammelt. Dann verschwindet einer nach dem anderen im Holz und bleibt für einen Tag und eine Nacht allein in der Natur, der Wildnis, ohne Zelt und ohne Nahrung. Das Ganze nennt sich „Vision Quest“ und macht pädagogisch durchaus Sinn.
Der Begriff „Vision Quest“ (dt. „Visionssuche“) entstand im 19. Jahrhundert, als sich europäische Ethnologen erstmals ernsthaft mit den kulturellen Eigenarten der nordamerikanischen Naturvölker befassten: Während ihrer Feldforschung war ihnen aufgefallen, dass immer wieder Indianer – oftmals sogar Kinder oder Jugendliche – aus der Dorfgemeinschaft austraten und für mehrere Tage und Nächte alleine in die Wildnis verschwanden, ohne Nahrung, Obdach oder Feuer, um vom Rest des Stammes bei der Rückkehr feierlich empfangen und rituell in die Gesellschaft re-integriert zu werden. Als sie die Indianer nach den Hintergründen fragten, antworteten diese: „Wir suchen nach Erkenntnis. Und nach einer Vision für unseren weiteren Lebensweg. Das heilige Alleinsein hilft uns, zu uns selbst zu finden“.
Mittlerweile weiß man, dass nicht nur die indigenen Ethnien Amerikas die „Vision Quest“ betreiben, sondern sämtliche Naturvölker der Welt, etwa die Aborigines Australiens (walkabout). Aber auch die großen Religionen kennen die Visionssuche, man denke nur an Jesus, der für 40 Tage fastend in die Wüste ging, oder Buddha, der sich fastend unter einen Baum setzte, bis er die Erleuchtung hatte; im Islam heißt die Visionssuche Istichāra. Und auch die alten Europäer praktizierten eine Visionssuche, handelt es sich bei dem Begriff „Quest“ doch um eine direkte Übernahme aus der altkeltischen Heldenepik und bezeichnet dort die „Reise“ oder „Âventiure“ des Märchenhelden, der – alleine in der Wildnis – gefährliche Aufgaben und Abenteuer zu bewältigen hat. In Deutschland sind es die Gebrüder Grimm, die jene alten Volksmärchen gesammelt haben, welche in den Visionssuchen der antiken Waldvölker Zentraleuropas wurzeln. Schon die Germanen praktizierten die Visionssuche, nämlich „das Draußensitzen“.
„Rites de passage“
Die „Vision Quest“ wird zu den rites de passage gezählt. Das sind Rituale, die den Übergang von der einen in die andere Lebensphase begleiten und mit Sinn versehen, insbesondere von der Kindheit zum Erwachsensein.