Thomas Höffgen

Naturvolk "Ese'Eja"

Bericht: Feldforschung in Peru (Auszüge)

 

„Ich habe bei den sogenannten 'wilden' Völkern die erhabensten

Begriffe von Gott, Tugend, Freundschaft [...] gefunden.“

Alexander von Humboldt

 

Amazonien. 40°C im Schatten und 100% Luftfeuchtigkeit. Gesang von Paradiesvögeln und abertausenden Zikaden. Schwärme von Schmetterlingen. Im tropischen Regenwald erscheint die Welt verändert, verzaubert, in einen urzeitlichen Schleier getaucht, fremd und doch vertraut. Die feuchte Hitze bringt die Luft zum Schmelzen, man wandelt wie im Traume zwischen Mammutbäumen und Lianen, Giftschlangen und Totenkopfäffchen. In dieser unberührten Wildnis leben immer noch Naturvölker, indigene Ethnien, etwa die Ese'Eja.

Ese'Eja

 

Die Ese'Eja (auch Ese Exa, Ese'ejja, Chama, Huarayo, Tampobata-Guarayo, Tiatingua) sind ein indigener Volksstamm aus dem südwestlichen Amazonasgebiet. Sie siedeln in den Tieflandregenwäldern in Bolivien und Peru, entlang der Flussläufe. Der einheimische Name Ece'je bedeutet „(wahre) Menschen“ bzw. „(wahres) Volk“. Tatsächlich lebten die Ese'Eja bis vor ein paar Jahren noch vor allem vom Jagen, Sammeln und Fischen. Heute wird ihre Population auf unter 2000 Menschen geschätzt.

Während eines Naturschutzpraktikums am Rio Madre de Dios („Mutter Gottes“) lernte ich die indigene Naturphilosophie der Ese'Eja näher kennen. Es handelt sich um eine Art spirituelle Ökologie, in der alle Phänomene der Natur harmonisch-symbiotisch ineinandergreifen und einen ganzheitlichen Organismus bilden. Die Weltanschauung der Ese'Eja ist animistisch, totemistisch und naturmagisch: Alle Dinge, belebt und unbelebt, gelten als beseelte Entitäten, mit denen man im schamanischen Bewusstseinszustand kommunizieren kann.

Expedition zum Eremiten

 

Im Indianerdorf Palma Real hatten wir von einem Mann gehört, der abseits des Dorfes lebe und alles über die Geschichte und Kultur der Ese'Eja wisse. Man war sich uneins, ob er ein Curandero sei, ein Heiler, oder doch ein Brujo, ein Hexer. Vielleicht wollte man sich auch nur einen Spaß mit uns erlauben. Also machten wir uns auf den Weg, mit dem kleinen Holzboot durch unendliche Wälder. Immer wieder mussten wir – Kaimanen und Piranhas zum Trotz – ins braune Wasser steigen, weil das Boot an einer Sandbank festhing. Irgendwann erblickten wir am Ufer eine Lichtung und ein Haus. Als wir die lehmige Böschung hochkletterten, fingen Hunde an zu bellen – die Hüter der Schwelle.

Ein kleiner Mann in traditionellem Gewand trat aus dem Haus und kam uns schnell entgegen. Er begrüßte uns sehr freundlich. Für das Gespräch setzten wir uns auf den Sandboden unter einem Holzverschlag. Es war recht schwer, den Ese‘Eja zu verstehen, er sprach ein schnelles Kauderwelsch aus Tacanan und Spanisch, und die Worte sprudelten nur so aus seinem Mund. Als wenn es Zauberworte wären, konnte man dem Redefluss jedoch bald folgen - freilich auch mithilfe eines Dolmetschers. Er erzählte von der Ur-Geschichte und der ursprünglichen Lebensart der Ese'Eja, demonstrierte Pfeil und Bogen und zeigte uns, wie man mit einem Feuerbohrer Feuer macht. In dramatischen Bildern berichtete er von der Konfrontation mit den Konquistadoren, gerade so, als hätte sich diese gestern erst ereignet, dabei drangen europäische Eroberer bereits im Jahre 1567 in das Land der Ese'Eja ein. Alles alte Wissen sei von seinen Vorfahren und Ahnen mündlich überliefert worden. Als ich ihn nach der religiösen Vorstellung der Ese'Eja fragte, begann er, seine Worte mit geheimnisvoller Mimik und mit mystischen Gebärden zu untermalen: Die ersten Menschen seien an einem Baumwollfaden vom Himmel auf die Erde hinabgestiegen, manche kennen noch die genaue Stelle. Er erklärte uns, dass die Mammutbäume für die Ese’Eja Weltenbäume darstellen und der Jaguar eine Gottheit repräsentiere. Eindrucksvoll berichtete er von Waldgeistern, die mithilfe metaphysischer Pfeile zum Schamanen berufen. Als ich ihm verständlich machte, dass die alten Europäer, viele tausend Jahre vor den Konquistadoren, eine ganz ähnliche Weltanschauung besaßen, antwortete er: „Wir sind alle Menschen (ece'je)“.