Thomas Höffgen

Widar, der Waldkrieger

 

Krieger des Waldes

 

Widar bzw. Vidar ist der Name eines altheidnisches Waldgottes, dem die naturreligiösen Germanen in heiligen Hainen Huldigung entgegenbrachten. Es handelt sich um eine eher unbekanntere Figur der germanischen Mythologie. Der Name – der auch in den norwegischen Ortsnamen Vidarshof (Virsu) und Vidarsskjálf (Viskjol) auftaucht – setzt sich zusammen aus den altnordischen Worten víðr „Wald“ und arr „Krieger“.

 

Die Germanen waren Waldbauern, deren Gehöfte sich inmitten undurchdringlicher Ur-Wälder befanden. Umgeben waren Haus und Hof von einem Zaun aus dichtem Buschwerk, Holunder, Hagedorn und Hasel, dem sogenannten Hag. Hinter dem Hag herrschte die Naturgewalt: Hier lebten wilde Tiere, Thursen und gefährliche Dämonen, aber auch liebliche Naturgeister und holde Gottheiten. Der Hag markierte die Grenze zwischen Zivilisation und Wildnis, Kosmos und Chaos – ratio und irratio. Wer sich über diesen Zaun hinauswagte, der war ein „Waldkrieger“.

 

Widars Wohnsitz wird Vídarsland oder auch Landwidi genannt, das heißt „weites Land“ bzw. „Weite“ (Widi, Vidi). Widarsland ist Niemandsland, abseits aller Dörfer, Wege oder Straßen, fernab der Zivilisation oder Vernunft. Widarsland ist ein heiliger Ort, ein mythisches Naturidyll, ein allbeseelter locus amoenus. Hier lebt Widar mit seinem Gefolge im wundersamen Märchenwald: Von Buschwerk überwachsen und hohem Grase / Ist Widars Waldland (Grimnismál 17).

 

Genealogie des Waldgottes

 

Widars Vater ist kein Geringerer als der germanische Göttervater Odin (südgermanisch Wotan). Odin ist die bestimmende Figur der germanischen Mythologie: Er ist Dichter-, Toten- und Schamanengott, Heiler und Hexer, Grüner Mann und Wilder Jäger, Meister der Magie und der Orakelkunst, Gott der Weisheit und Erkenntnis, des Lebens und des Todes, Odin ist der „Allvater“.

 

Widars Mutter ist die Riesin Grid. Für gewöhnlich verkörpern Riesen feindliche Elementarkräfte oder negative Eigenschaften; das Wort gríðr etwa heißt „Gier, Heftigkeit“. Grid hingegen ist den Göttern wohlgesonnen: So schenkte sie dem Thor einstmals den Kraftgürtel Megingiard, den eisernen Handschuh Jarngreipr und den Zauberstab Griðarvölr. Nach Thor gilt Widar als der stärkste Ase und die Götter verlassen sich auf ihn in allen Schwierigkeiten (Gylfaginning 28).

 

Ragnarök

 

Besonderer Ruhm gebührt dem Widar, weil er in der Endzeitschlacht Ragnarök seinen gefallenen Vater rächt, indem er dem Fenriswolf mit einem Zauberstiefel in den Rachen tritt und diesen entzweireißt. In der altnordischen Überlieferung heißt es:

 

Der Wolf verschlingt Odin, der so ums Leben kommt. Alsbald kehrt sich Widar gegen den Wolf und setzt ihm den Fuß in den Unterkiefer. An diesem Fuß hat er den Schuh, zu dem man alle Zeiten hindurch sammelt, die Lederstreifen nämlich, welche die Menschen von ihren Schuhen schneiden, wo die Zehen und Fersen sitzen. Darum soll diese Streifen ein jeder wegwerfen, der darauf bedacht ist, den Asen zu Hilfe zu kommen. Mit der Hand greift Widar dem Wolf nach dem Oberkiefer und reißt ihm den Rachen entzwei und das wird des Wolfes Tod“ (Gylfaginning 50).

 

Widar ist einer der wenigen Überlebenden von Ragnarök. Zusammen mit Wali, Magni und Modi, Balder und Hödur gehört er zu der Generation Götter, die nach der Endzeitschlacht in der neuen Welt leben werden, freilich unter der Friedensherrschaft des wiedergeborenen Odin-Fimbultýr.

 

Kultgott Widar

 

Die Germanen opferten dem Widar Lederstreifen von den Schuhen, um ihn für das Weltende zu wappnen. Der Schuh steht für die „Reise“ oder „Wanderschaft“ des Widar durch das Waldland, aber auch die Kultumzüge seiner Anhänger durch die Wildnis außerhalb des Dorfes.

 

Im Zuge der Zwangschristianisierung wurde Widar durch Sankt Veit substituiert, den Schutzpatron der Sommersonnenwende (Gedenktag 15. Juni), dessen lateinischer Name, Vitus, noch deutlich an das althochdeutsche vidu bzw. vitu „Holz, Wald“ erinnert.

 

In altgermanischer Zeit wurden zur Sommersonnenwende Widarkulte abgehalten – mit Feuerritualen, Ekstasetänzen und heidnischer Musik. Bis ins hohe Mittelalter versammelte sich viel Volk zum „Veitstag“ bzw. „Widarstag“ und geriet in eine regelrechte Tanzwut; noch heute versteht man unter dem Begriff „St.-Veits-Tanz“ wahnsinnige Chorreigen und wilde Tänze (Chorea).

 

Diese „Widarien“ waren wilde Hexensabbate und orgiastische Fruchtbarkeitskulte, vergleichbar mit den altgriechischen Dionysien: „Auch im deutschen Mittelalter wälzten sich unter der gleichen dionysischen Gewalt immer wachsende Scharen, singend und tanzend, von Ort zu Ort: in diesen Sankt-Johann- und Sankt-Veittänzern erkennen wir die bacchischen Chöre der Griechen wieder, mit ihrer Vorgeschichte in Kleinasien, bis hin zu Babylon und den orgiastischen Sakäen“ (Nietzsche).