NEUERSCHEINUNG!!
Waldphilosophie
Warum der Wald nicht nur gesund, sondern auch weise macht
Der Wald als Ort geistiger Erkenntnisse, seelischer Erlebnisse und göttlicher Eingebungen
„Im Walde geht das Herz dem Menschen auf“, heißt es. Aber ist damit wirklich gemeint, dass ein Spaziergang durch den Wald den Blutdruck reguliert? Wahres Waldbaden ist kein medizinischer Trend, sondern eine mystische Tradition: Schon die Germanen verehrten ihre Götter in heiligen Hainen. Aber auch Buddha wurde unter einem Baum erleuchtet, Platon meditierte in einem Musenhain, Hildegard von Bingen nahm die „grüne Kraft“ der Bäume wahr und Goethe offenbarte sich im Wald die „Gott-Natur“. Dr. phil. Thomas Höffgen erinnert daran, dass ein Aufenthalt im Grünen nicht nur das körperliche Wohlbefinden steigert, sondern auch unseren Geist bewegt und unsere Seele berührt. Mit diesem Buch regt er dazu an, den Bäumen selbst mit einer gesunden Portion Spiritualität zu begegnen – eine Einladung zu einem Waldbad der philosophischen Art.
Einleitung
„Uralten Waldes majestätische Kronen,
Schroffglatter Felsenwände Spiegelflächen
Im Schein der Abendsonne zu betrachten –
Erreget Geist und Herz zu der Natur
Erhabnen Gipfeln, ja zu Gott hinan“.
Johann Wolfgang Goethe (deutscher Dichter)
Weisheit aus dem Wald
„Warum zieht es die Menschen seit Jahrtausenden in die Wälder?“, fragte mich ein befreundeter Biologe, als wir nach einem Tag im Wald auf der Veranda meiner Blockhütte saßen und ein wenig herumphilosophierten. Er hatte die Antwort gleich parat: „Biochemie!“. Souverän warf er mit allerhand naturwissenschaftlichen Fachbegriffen um sich, sprach von Atomen, Molekülen und Hormonen, Isopren, Lipiden und Terpenen. Man habe herausgefunden, dass bestimmte chemische Pflanzenstoffe, biochemische Phytonzide, die von den Bäumen ausgeschüttet werden, vor allem die Terpene, äußerst positive physiologische und neuropsychologische Effekte hätten: Setze man sich für nur eine Stunde unter einen Baum, so mache dies schon nachweislich gesund und stark und lebensfroh – „das ist der Forschungsstand“, rief er aus und haute mit der Faust auf den Tisch. Ich hielt einen Augenblick lang inne, strich mir nachdenklich über mein Kinn und fragte dann gespielt lakonisch: „Und Buddha? Hatte der ‘ne Überdosis dieser Botenstoffe?“. Der Biologe sah mich baff an. Doch wusste er sogleich, worauf ich anspielte: Der indische Religionsstifter Siddhārtha Gautama, genannt Buddha, brachte es immerhin bis zur göttlichen Erleuchtung, nachdem er lange unter einem Baum gesessen und sinniert hatte; derselbe Baum wird heute Bodhi-Baum genannt (bot. ficus religiosa), Baum der Weisheit, und steht noch immer in Bodhgaya, wo die Mönche in seinem Schatten meditieren. „Willst du etwa behaupten“, entgegnete er erstaunt, „dass der Wald nicht nur gesund, sondern auch weise macht?“.
Zweifelsohne sind die neuesten naturwissenschaftlichen Erkenntnisse im Bereich der Forest Medicin („Waldmedizin“) bemerkenswert: Man hat fürwahr herausgefunden, dass pflanzliche Duft- und Kommunikationsmittel der Bäume, aber auch Mikroben wie Bakterien und mikroskopische Pilze, die im Wald leben, eine äußerst wohltuende Wirkung auf den menschlichen Organismus haben – das Immunsystem stärken, die Killer-Zellen anregen, die Stresshormone reduzieren, den Blutdruck regulieren und so weiter. Klinische Tests haben ergeben, dass die phytogenen Substanzen sogar gegen Depressionen, Diabetes und Krebs helfen können. Spannende und wichtige Erkenntnisse, die auch dazu geführt haben, dass es gegenwärtig wieder mehr Menschen in die heimischen Wälder zieht, um sich die heilsamen Effekte zu Nutze zu machen, die Natur mit allen fünf Sinnen zu genießen und bewusst die Baumluft einzuatmen – man spricht neuerdings von „Waldbaden“ bzw. „Shinrin Yoku“.
Mir ist das jedoch – mit Verlaub – zu oberflächlich: Ich glaube nicht daran, dass die beglückende und beseelende Wirkung, die von einem achtsamen Aufenthalt in der Natur ausgeht, materiell begründbar ist, dass sich die jahrtausendelange Liebesbeziehung zwischen Mensch und Baum auf Phytonzide reduzieren lässt oder dass das Wesen des Waldes aus Kohlenwasserstoff besteht. Zumindest nicht ausschließlich. Vielmehr glaube ich, dass sich etwas viel Erstaunlicheres hinter der geradezu magischen Anziehungskraft, die der Wald auf uns ausübt, verbirgt – ein letztlich nur philosophisch fassbares mysterium fascinosum.
Immerhin war und ist der Wald doch immer auch und ganz besonders ein Ort der Weisheit, Erkenntnis und Inspiration: Philosophen aller Zeiten und Kulturen zog es in die Haine; die ersten Akademien der Welt befanden sich im Wald. In fast allen Religionen spielen Bäume eine Schlüsselrolle; Weltenbäume, Menschenbäume, Bäume der Erkenntnis oder Bodhi-Bäume. Und Künstler aller Couleur ließen sich mit Vorliebe in und von den Wäldern begeistern; insbesondere zur Zeit der Romantik. Ja in der gesamten menschlichen Kulturgeschichte ist der Wald immer auch und ganz besonders ein Ort der seelischen Erlebnisse, geistigen Erkenntnisse und göttlichen Eingebungen. Mit phytogenen Ausdünstungen hat das nichts zu tun. Vielmehr scheinen die Bäume das menschliche Bewusstsein anzusprechen und die Bildekräfte des menschlichen Bewusstseins zu stimulieren, wie ästhetische Darstellungen, archäologische Artefakte und schriftliche Überlieferungen mannigfach bezeugen.
Viele Menschen, die es in unberührte Wildnisse verschlägt, berichten von außergewöhnlichen mentalen oder metaphysischen Erlebnissen. Zum Beispiel schon der erste Spartathlonläufer der Welt, der Grieche Pheidippides, der 246 Kilometer Tag und Nacht alleine durch unwegsame Wald- und Bergwildnis von Athen nach Sparta lief: „Und diesem ist nun, wie Pheidippides selbst berichtete und den Athenern verkündete, in der Gegend des Parthenios-Berges, der oberhalb von Tegea liegt, Pan erschienen. Pan habe den Namen des Pheidippides laut gerufen“, heißt es bei Herodot, dem Vater der rationalen Geschichtsschreibung. Wohlgemerkt ist Pan keine Person, sondern eine mythologische Gestalt, nämlich der griechische Waldgott mit Bocksbeinen und Hörnern, den Pheidippides also gesehen (Vision) und gehört (Audition) haben will. Was soll man davon halten? Die Athener jedenfalls, die nicht als das dümmste Volk der Welt in die Geschichte eingegangen sind, schenkten dem Bericht des Boten Glauben und „bauten unterhalb der Akropolis ein Heiligtum für Pan“ (Historien 6, 105).
Nun muss nicht immer gleich ein Gott erscheinen. Aber eine Unzahl vergleichbarer Überlieferungen in vielerlei Form und Farbe legen den Verdacht nahe, dass der Wald und dass die Bäume durchaus auch Einfluss auf die innere Disposition des Menschen haben, nicht nur auf die äußere Organisation desselben einwirken, sondern einen signifikanten Einfluss auch auf die geistige und psychische Verfassung haben. Oder mit den Worten des US-amerikanischen Naturphilosophen Ralph Waldo Emerson: „In den Wäldern kehren wir zur Vernunft und zum Glauben zurück“ (Nature 1836). Meist geht es dann zwar doch ins Numinose. Aber eher metaphorisch und in dem Sinne, als dass die Natur selbst als „göttlich“ wahrgenommen wird: Zahlreiche Zeugnisse der älteren und jüngeren Geschichte stellen den Wald als einen Ort philosophischer Gnosis und pantheistischer Erfahrung vor.
„Im Walde geht das Herz dem Menschen auf“, heißt es beim romantischen Poeten Ludwig Tieck, der für seine phantastisch-märchenhaften Walddichtungen bekannt ist. Und das ist nicht kardiologisch gemeint im Sinne der modernen Forest Medicine, dass der Wald den Blutdruck reguliert oder das Herz-Kreislauf-System ankurbelt. Vielmehr gilt seit alters her das Herz als Sitz der Seele, Gefühle und geistigen Empfindungen.
Sind es am Ende also gar nicht Pflanzenstoffe, die den Waldgänger glückselig und gesund machen, sondern Herzrührung und Spiritualität? Klingt ein wenig esoterisch. Aber selbst die European Wilderness Society, die nicht im Verdacht steht, romantisch oder religiös zu sein, sondern mit dem EU-Parlament kooperiert, definiert die unberührte Waldwildnis als eine Landschaft, die dem menschlichen Besucher vor allem die Möglichkeit zur geistig-seelischen Naturerfahrung eröffne, wörtlich: „to experience the spiritual quality of nature“.
Warum muss man sich überhaupt rechtfertigen, wenn man von „Geist“ und „Seele“ spricht? Als wären Gedanken und Gefühle, Erkenntnis und Empfindung, Verstand und Vorstellung – „Geist“ und „Seele“ – ein Esoterikum: Jeder hat so etwas, sogar Naturwissenschaftler, die weismachen wollen, dass es sich dabei um neurochemische Prozesse handelt. Tatsächlich handelt es sich um ganz zentrale Gegenstände der globalen Geistesgeschichte und sehr exakte philosophische Fachbegriffe, die seit mehreren Jahrtausenden argumentativ diskutiert und begründet definiert werden (z. B. altgr. νοῦς und ψυχή bzw. lat. spiritus und anima).
Das vollständige Zitat von Tieck lautet übrigens: „Im Walde geht das Herz dem Menschen auf, da ist er, wo er hingehört“. Und auch das ist – rein kulturanthropologisch betrachtet – völlig zutreffend: Denn rund drei Millionen Jahre lang lebten wir inmitten der Natur, Europa war zehntausend Jahre lang fast vollständig bewaldet, während wir erst seit rund dreihundert Jahren als bürgerliche Stadtmenschen abgeschottet von der Umwelt leben – der Wald ist die eigentliche Urheimat des menschlichen Geschlechts. Aber nicht nur historisch gesehen, sondern auch aus philosophischer Perspektive ist der Wald ein Ort, an dem der Mensch mit seinem eigenen Ursprung in Berührung kommt, mit den Urgründen des Seins und der Bedeutung des Selbst: Wie Buddha gelangt er unter Bäumen zu den Grundfragen der Existenz. Der Wald steckt uns gewiss noch in den Genen, aber auch in unserem Geiste.
Ein modernes Beispiel für solch ein geistbewegendes Waldbad stammt von Albert Hofmann, jenem mehrfach mit der Ehrendoktorwürde ausgezeichneten Schweizer Chemiker, der gleichwohl nie auf die Idee kam, sein naturmystisches Erleben auf die Waldchemie zurückzuführen. Vielmehr regte es ihn zu philosophischen Gedanken an, die schon bei Platon anklingen: „Es war an einem Maimorgen. Das Jahr weiß ich nicht mehr, aber ich kann noch auf den Schritt genau angeben, an welcher Stelle des Waldweges auf dem Martinsberg oberhalb von Baden sie eintrat. Während ich durch den frischergrünten, von der Morgensonne durchstrahlten, von Vogelgesang erfüllten Wald dahinschlenderte, erschien auf einmal alles in einem ungewöhnlich klaren Licht. Hatte ich vorher nie recht geschaut, und sah ich jetzt plötzlich den Frühlingswald, wie er wirklich war? Er erstrahlte im Glanz einer eigenartig zu Herzen gehenden, sprechenden Schönheit, als ob er mich einbeziehen wollte in seine Herrlichkeit. Ein unbeschreibliches Glücksgefühl der Zugehörigkeit und seligen Geborgenheit durchströmte mich. […] In meiner späteren Knabenzeit hatte ich auf meinen Streifzügen durch Wald und Wiesen noch einige solche beglückende Erlebnisse. Sie waren es, die mein Weltbild in seinen Grundzügen bestimmten, indem sie mir die Gewißheit vom Dasein einer dem Alltagsblick verborgenen, unergründlichen, lebensvollen Wirklichkeit gaben“ (Einsichten Ausblicke).
Dieser anderen, sozusagen unsichtbaren Seite des Waldes wurde bislang viel zu wenig Beachtung geschenkt, da die hyperrationalen Naturwissenschaften den Diskurs einseitig dominieren. Was bislang eindeutig zu kurz kam, ist eine geisteswissenschaftliche Betrachtung der Bäume, die sich nicht allein auf Physisches beschränkt, sondern Metaphysisches miteinbezieht, und die sich auch vor Mythen, Mystik und Magie nicht fürchtet, sondern diese zu verstehen versucht. Diese Lücke auszufüllen, nicht quantitative, sondern qualitative Forest Medicine zu betreiben, ist das Anliegen des vorliegenden Buches. Aber mehr als das: Es will zugleich auch aufzeigen, mit welchen praktischen Erkenntnismethoden sich die wundersame Wirklichkeit des Waldes – zumindest nach dem Dafürhalten zahlreicher Philosophen, Priester und Poeten – tatsächlich wahrnehmen und erfahren lässt, getreu dem Motto: „Alle Theorie ist grau, und nur der Wald und die Erfahrung sind grün“ (Friedrich Pfeil). Kurzum: Das vorliegende Buch versteht sich selbst als Grundsteinlegung für eine ganzheitliche Forest Philosophy in Theorie und Praxis.
Wohlgemerkt handelt es sich nicht um eine Gebrauchsanweisung, um Bäume zu umarmen. Nichts gegen eine solche Tätigkeit. Aber der Verfasser hält seine Leser nicht für Dummies, die für jeden Schritt und Tritt in der Natur eine Beschreibung brauchen: Triviale Handlungsanleitungen („gehen Sie in den Wald“) mit altbekannten Atemübungen („kurz ein, lang aus“) und augenscheinlichen Entspannungstechniken („lehnen Sie sich an einen Baum“) wird man hier vergeblich suchen. Vielmehr geht es um die Vermittlung einer ganz bestimmten Vorstellung oder Vision von Wald, mit der man den Bäumen proaktiv begegnen kann, um tiefgreifende und erkenntnisreiche Erfahrungen zu machen – man würde heute wohl von mindset sprechen. Nicht die Tätigkeit an sich, so die Überzeugung, sondern die dahinterliegende Intention vermag ein profanes Waldbad in ein tiefgreifendes Naturerlebnis zu verwandeln.
Die These lautet schließlich, dass Waldbaden im Wesentlichen gar keine körperliche Angelegenheit ist, sondern ein besonderer Geistes- und Gemütszustand, ein besonderer Bewusstseinszustand. Man könnte fast von einem Baumbewusstsein sprechen, vielleicht so ähnlich wie der Naturphilosoph Richard Powers in seinem Roman Die Wurzeln des Lebens (2018): „Tree-consciousness is a religion of life, a kind of bio-pantheism“ (LA Reviews of Books 2018). In diesem bio-pantheistischen Bewusstseinszustand vermag der Mensch den Wald so wahrzunehmen, wie er wirklich ist, sinnlich, aber auch seelisch: Vor seinem geistigen Auge erscheinen ihm die Urbilder der Bäume und das Wesen des Waldes, und er tritt in näheren Kontakt mit dem, was Goethe Gott-Natur nannte. Kaum zu glauben, aber wahr, dieses Baumbewusstsein lässt sich sogar messen: Veränderung der Hirnwellen, des Herzschlages, der Atmung und der Muskelspannung sind äußere Symptome dieses inneren Zustandes.
„Nun ja“, antwortete ich auf die Frage meines Biologenfreundes, „wie der Wald nicht einfach so gesund macht, ohne dass man etwas dafür tut, zumindest doch wohl ein- und ausatmen, so macht er auch nicht einfach weise, ohne dass man etwas dafür tut, zumindest doch wohl denken und empfinden. Wer das nun aber mit Bewusstsein tut, hat zumindest gute Chancen, jedes Mal ein bisschen weiser aus dem Wald wieder herauszukommen, als er hineingegangen ist“.
Die Sprache der Bäume: "Ja, sie reden!"
„Der Wald lebt, er kann sprechen und erzählt die Sage von der Urmutter allen Lebens“ (Jakutisch).
Wahre Waldmedizin: Von den Terpenen zur Transzendenz
„Ich ging in die Wälder, um ein bewusstes Leben zu führen“ (Thoreau).
Was den Wald im Innersten zusammenhält
"Was kann der Mensch im Leben mehr gewinnen, als dass sich Gott-Natur ihm offenbare?" (Johann Wolfgang Goethe)
Stammen wir von Bäumen ab?
"Borrs Söhne gingen am Seestrand. Sie fanden zwei Bäume und schufen daraus Menschen. Der Mann hieß Ask, die Frau Embla" (Edda)