Thomas Höffgen

Kulturanthropologie

Oder: Kurze Geschichte der Menschheit

 

"Wer nicht von dreitausend Jahren sich weiß Rechenschaft zu geben,
bleib im Dunkeln unerfahren, mag von Tag zu Tage leben" (Goethe).

„Wer nicht von dreitausend Jahren sich weiß Rechenschaft zu geben, bleib im Dunkeln unerfahren, mag von Tag zu Tage leben“, schrieb Goethe. Doch sein Satz muss korrigiert werden, genauer gesagt: die Jahresangabe. Denn wer die Kulturgeschichte - und mithin das Menschsein an sich - wirklich verstehen will, muss schon von den letzten dreimillionen Jahren Rechenschaft abgeben können.

 

 

Vor ca. 2,5 Millionen Jahren betrat in Afrika erstmals ein Wesen der Gattung Homo die Erde, der sogenannte „Urmensch“ (Homo rudolfensis), der bewusst den Faustkeil anfertigte, jenes „Schweizer Taschenmesser der Steinzeit“. Ihm folgte vor rund 2 Millionen Jahren der „Frühmensch“ (Homo erectus), ein prometheischer Charakter, der das Feuer zu beherrschen lernte und sich in Asien und Europa ausbreitete. Vor 300.000 Jahren entwickelte sich der „anatomisch moderne Mensch“ (Homo sapiens), mit dem auch die Geschichte der Sprache beginnt.

 

 

Als der Homo sapiens vor rund 40.000 Jahren in Europa einwanderte, vollzog sich eine kulturelle Revolution: Der sogenannte „Cro-Magnon-Mensch“ stellte plötzlich Gegenstände her, die über die existenzielle Notwendigkeit hinausgingen, Kunstwerke wie Höhlenmalereien, Schmuck, Skulpturen und Musik/-instrumente. Deshalb spricht man hier von der Geburtsstunde des „modernen Menschen“ (Homo sapiens sapiens), der sich auch intellektuell nicht mehr von uns Modernen unterscheidet.

 

 

Die Zentralfigur der vorzeitlichen Gesellschaft war zweifelsohne der Schamane, jener Steinzeitphilosoph. Seine Kenntnisse und Fähigkeiten erstreckten sich über alle Bereiche des menschlichen Lebens: Er war Arzt und Psychologe, Zoologe und Botaniker, Musiker und Dichter, religiöser Spezialist und politischer Geheimrat.

 

 

Fast 3 Millionen Jahre lang lebte der Mensch nomadisch als Jäger und Sammler, allen evolutionären Entwicklungen zum Trotz. Doch vor rund 10.000 Jahren wurde er auf einmal sesshaft: Er errichtete Gebäude, betrieb Ackerbau und Viehzucht; es entstand die erste „Zivilisation“. Warum, weiß niemand so genau: Die „Neolithische Revolution“ ist eines der großen Rätsel der Menschheitsgeschichte.

 

 

Die letzte Kaltzeit endete vor ca. 12.000 Jahren. Mit der Klimaerwärmung veränderte sich auch das Gesicht der Erde: Als sich die Eismassen zurückzogen, wanderten die Großsäuger nach Norden ab und starben aus, etwa die Mammuts. Wo vormals steinzeitliche Tundra vegetierte, wuchsen nun unendliche Wälder, in denen Kleinsäuger wie Hirsch und Wildschwein lebten.

 

 

Die alten Europäer waren Waldbauern: Inmitten undurchdringlicher Wälder errichteten sie einzelne Gehöfte aus Holz und Lehm. Um Haus und Hof zogen sie eine dichte Hecke, einen lebendigen Zaun aus Holunder, Hagedorn und Hasel, der die Grenze zwischen Zivilisation und Wildnis markierte. Hinter der Hecke begann das Reich der Götter, Geister und Dämonen.

 

 

Die Welt der alten Europäer war von Naturgeistern bewohnt: Alle Phänomene der Natur galten als beseelte Entitäten – Flora und Fauna, Berge und Bäche, Himmel und Erde. Elementardämonen strukturierten den Kosmos: Feuer-, Wasser-, Luft- und Erdgottheiten. Alles alter Aberglaube? Oder die gesteigerte Fähigkeit, die Phänomene der Natur so wahrzunehmen, wie sie wirklich sind?

 

 

Die alten Europäer werden auch als „Megalith-Kultur“ bezeichnet, weil sie monumentale Bauwerke aus „großen Steinen“ (Megalithen) errichteten, zum Beispiel Stonehenge, bei dem es sich vermutlich um ein steinzeitliches Sonnenobservatorium handelt. Die Megalith-Kultur ist gekennzeichnet durch riesenhafte Großsteingräber, die sogenannten Hünengräber, die nicht nur der Bestattung, sondern auch dem Totenkult dienten.

 

 

Wohl zwischen 4000 und 2000 v. u. Z. wanderte aus den Steppen nordöstlich des Schwarzen Meeres ein Reitervolk nach Europa und vermischte sich mit den alten Europäern: Durch den Synkretismus beider Kulturen entstanden später die sogenannten indogermanischen Völker – Griechen, Römer, Kelten, Germanen, Slawen, Balten usw. – mitsamt ihren Sprachen, die wir noch heute sprechen.

 

 

Schon längere Zeit beherrschte man Metallurgie, etwa die Gewinnung und Verarbeitung von Gold, Silber und Kupfer. Aber erst ab ca. 2200 v. u. Z. entdeckte man die Möglichkeit, zwei Metalle miteinander zu kombinieren, um einen dritten Stoff hervorzubringen – und stellte aus Kupfer und Zinn Bronze herz. Seit jeher haftet der Schmiedekunst etwas Magisches an, etwas Alchemistisches, ja Göttliches.

 

 

Im vorklassischen Griechenland zogen Aioden und Rhapsoden durch das Land, musisch inspirierte Dichtersänger wie Homer und Hesiod, die das abendländische Altertum begründeten. Die alten Griechen errichteten großartige Tempel zu Ehren ihrer Götter, begingen hehre Kulte wie die Dionysien und besuchten das Orakel von Delphi oder die Mysterien von Eleusis.

 

 

Naturphilosophen wie Thales, Heraklit, Anaximedes, Empedokles, Leukippos, Demokrit, Anaximander, Anaxagoras und viele mehr versuchten erstmals die Phänomene der Natur auf einen gemeinsamen Urgrund zurückzuführen und entwickelten verschiedene Elementarlehren. Die pantheistische Zauberformel der antiken Naturphilosophie lautete: „Eins und Alles“ ( Ἓν καὶ Πᾶν).

 

 

Das klassische Altertum wurde durch die mediterranen Stadtkulturen dominiert, insbesondere Athen und Rom. Vieles von dem, was wir heute als Zivilisation bezeichnen, geht auf diese Gesellschaften zurück: Rationalismus und Demokratie, Geschichtsschreibung und Wissenschaft, Ästhetik und Theater, aber auch das Militärwesen. Das Imperium Romanum ging schließlich an der Dekadenz zugrunde.

 

 

Auf der anderen Seite der Alpen lebten die Germanen. Den Römern galten sie als Hinterwäldler, Primitive und Barbaren. Denn die Naturvölker Mittel- und Nordeuropas lebten immer noch als Bauern in den Wäldern. Sie lebten nicht in Staaten, sondern Stämmen. Sie lebten im Einvernehmen mit der Umwelt und bauten ihren Göttern keine Tempel, sondern widmeten ihnen heilige Haine.

 

 

Im 4. Jahrhundert n. u. Z. wurde das Christentum zur Staatsreligion von Rom erhoben. Bald wurde der christliche Missionsbefehl in ganz Europa durchgesetzt. Große Teile der Bevölkerung wurden zwangschristianisiert. Die heidnischen Naturgötter der alten Europäer wurden mit Teufel gleichgesetzt und naturreligiöse Rituale mit dem Tod bestraft. An die Stelle der durchgötterten Natur trat eine durchteufelte.

 

 

Doch bis heute haben sich die heidnischen Geschichten und Gebräuche gehalten. Nicht zuletzt die volkstümlichen Jahreszeitenfeste überliefern sie bis in die Gegenwart: Tatsächlich gehen fast alle Kirchenfeste, die wir heute feiern, zurück auf germanische Rituale – Weihnachten, Ostern, St. Walpurgis, St. Johannis, Erntedank, Allerheiligen, usw.

 

 

Das hohe Mittelalter war gekennzeichnet durch seine höfische Kultur: Die Wälder wurden gerodet und es fand eine weitere Verstädterung statt; unter dem Diktum der katholischen Kirche wurde die Natur als Spiegelbild des Sündenfalls gedeutet. Die Kontrastfigur zum edlen Ritter und zur Hofdame war der Wilde Mann, der einsam durch die letzten Wälder streift und die Naturgeheimnisse hütet, zum Beispiel Merlin.

 

 

Ab 1500 fand eine Renaissance statt, nämlich die „Wiedergeburt der Antike“ mit ihren philosophischen Erkenntnissen. Der blinde Glaube an die Bibel wurde abgelöst durch die empirische Naturforschung: Das geozentrische Weltbild wich dem kopernikanischen. Man erkannte, dass die Erde gar keine Scheibe ist und man entdeckte – besser: eroberte – den Kontinent Amerika.

 

 

Die frühe Neuzeit gilt als Hochphase des Humanismus, aber auch als Zeit der Hexenverfolgung: Rund 3 Millionen Menschen wurde in Europa der Prozess gemacht. Hunderttausende unschuldige Frauen und Männer wurden des Teufelspakts bezichtigt, vom Inquisitionsgericht gefoltert und auf dem Scheiterhaufen hingerichtet, weil sie immer noch der alten Religion anhingen und die Kräfte der Natur verehrten.

 

 

Erst mit der Aufklärung im 18. Jahrhundert wurde die absolute Autorität der Kirche abgeschaft: Nicht mehr der Glaube zählte, sondern evidentes Wissen. Das Ideal der Gottestreue wurde durch das Ideal des Freigeistes substituiert. Ausgehend von Frankreich vollzog sich eine Revolution, deren bürgerlicher Schlachtruf lautete: „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“. Es entstanden Menschenrechte.

 

 

Doch mit der Aufklärung schritt auch die Entzauberung der Welt voran: Durch den hyperrationalen Fortschrittspositivismus des Aufklärungsjahrhunderts wurde die Natur endgültig entgöttert. Bis heute spricht man der Umwelt ihren Geist ab und degradiert Natur zur toten Materie. Die ökologische Krise des 21. Jahrhunderts steht in direkter Verbindung zum mechanisch-technokratischen Weltbild der Aufklärung.

 

 

Die jungen Dichterdenker der Romantik waren mit dieser Entwicklung nicht zufrieden und stellten der ratio die emotio entgegen: Man identifizierte sich mit den edlen Tugenden der vorzeitlichen Naturmenschen. Man sehnte sich nach ungetrüber Naturerfahrung. Und man sammelte Volksmärchen aus einer Zeit, „die einmal war“.

 

 

Doch unaufhaltsam bahnte sich die Industrialisierung ihren Weg und dominiert die menschliche Kultur bis heute: Binnen weniger Jahrzehnte hat sich die Welt vollständig geändert - der blaue Planet ist zum grauen Planeten mutiert. Industrienationen beherrschen den globalen Massenmark und verschmutzen und verseuchen unsere Erde. Der Stoff, aus dem die Gegenwart gemacht ist, nennt sich Plastik. Und die Menschen flüchten sich derweil in virtuelle Wirklichkeiten und benehmen sich wie Cyborgs. Man darf gespannt sein, wie es weitergeht.